Stefan Meißner

Presse // Woyzeck

NEUE WESTFÄLISCHE, 05.02.18
ÜBERZEUGENDES HORRORSZENARIO DES SCHEITERNS
Woyzeck-Inszenierung: Jörg Schulze-Neuhoff beweist im Amalthea echte Schauspielkunst.
Regisseur Stefan Meißner hat das Büchner-Drama eingedampft.
Autorin: Ulla Meyer

Neue Westfälische PaderbornGeniales Solo: Jörg Schulze-Neuhoff wäscht sich auf dem Ketchup-Blut getränkten Teppich im Amalthea. | Foto: Ulla Meyer

Paderborn. Ist das jetzt schon der Mord an Marie oder nur "normaler" Geschlechtsverkehr? Auch wer seinen Woyzeck gut zu kennen glaubt, ist zunächst irritiert. Die Inszenierung von Jörg Schulze-Neuhoff, die am Samstag im Amalthea-Theater vor gut 30 Zuschauern als Einpersonenstück statt fand, beginnt gleich blutig.

Nach gruseligem Donnergrollen wälzt sich Woyzeck im Ketchup-Blut auf der komplett mit Alufolie ausgelegten Bühne, deren Boden nach Sex, Mord und Blut und unzähligen Mehlwaschungen selbst zum Kunstwerk wird. Ein silberig schimmernder Teppich, der nach und nach Struktur annimmt. Der Aluschimmer wird farblich leicht mit Mehl gedimmt, dazu entsteht nach und nach ein unregelmäßiges Muster aus rotem Blut.

Woyzeck selbst begegnet seiner Umwelt im Operationshöschen, festgetuckerte Gaze, vorne und hinten verstärkt, dazu schwarze Springerstiefel. Irgendwas blitzt und leuchtet in seinen Pupillen, der Rest der Augen ist blutrot.

Von Regisseur Stefan Meißner auf straffe 75 Minuten eingedampft, beginnt dieser Woyzeck nicht mit einem betulichen Gespräch von Woyzeck aud Hauptmann, sondern gleich mit Blut. Hier wird auf Atmosphärisches gesetzt, ein überzeugendes Horrorszenario des Scheiterns. Es ist das Höllenkarusell, das ewige Hamsterrad des kleinen Mannes, kleinen Soldaten, als Versuchsobjekt, Untergebener, Betrogener... und des Täters.

Ständig wäscht sich Woyzeck mit Mehl aus einem Baueimer, der panische Satz "Ich muss mich waschen!" zieht sich wie ein Leitmotiv durch die Inszenierung. Eingespielte Techno-Fragmente, irgendein beliebiger Industriesound, symbolisieren Entfremdung. Dazu kommt noch die genial reduzierte Sprache Woyzecks, die nichts anderes ist als komplette Sprachlosigkeit und im diffusen "Immerzu..." endet.

Das Ganze ist zwar ein Einpersonenstück und es ist niemand anderes auf der Bühne als Jörg Schulze-Neuhoff in Anstaltskleidung, doch agieren in dieser Inszenierung viele Personen: Marie, Doktor, Tambourmajor und Hauptmann. Und man erkennt sie alle sofort: plötzlich ändert sich Schulze-Neuhoffs Körperspache, plötzlich ändern sich Dnktion und Stimmlage, auf den Punkt wechseln Mimik und Gestik. Eben noch stammelte Woyzeck in einfacher Syntax, der eloquente Doktor antwortet und man weiß sofort, wer spricht.

Das ist echte Schauspielkunst von Jörg Schulze-Neuhoff, der im Amalthea-Theater auch schon mit Kafkas "Der Bau" und Goethes "Götz von Berlichingen" überzeugte. Nach dem alles verloren ist und Woyzeck sein komplett entfremdetes "Immerzu..." stammelt, bleiben Bühne und Zuschauerraum schwarz.

Und es ist wie im Klassik-Konzert, wenn sich niemand zu applaudieren traut, es bleibt also erst mal still. Doch da kommt nichts mehr und irgendwann trauen sich die ersten und feiern Jörg Schulze-Neuhoff frenetisch für ein geniales Solo.

TRIERISCHER VOLKSFREUND, 07.12.17
EIN MEILENSTEIN IM PASSENDEN AMBIENTE
Traben-Trarbacher Gymnasiasten besuchen die Solo-Interpretation eines deutschen Bühnenklassikers.
Die Aufführungen von Georg Büchners "Woyzeck" wecken Neugier und Begeisterung.
Autor: Michael Herder

trierischer volksfreundDie Gymnasiasten im Blauen Gewölbe in Traben-Trarbach. Die Solo-Inszenierung von "Woyzeck" kam gut an. | Foto: Schule

Traben-Trarbach. Gleich an zwei Abenden hatten die Gymnasiasten aus Traben-Trarbach in der Kulturscheune in Kröv und im Blauen Gewölbe in Traben-Trarbach Gelegenheit, sich einem zentralen Werk der deutschen Literatur auf lebendige Weise zu nähern: "Woyzeck" von Schriftsteller Georg Büchner ist auf den Bühnen eines der meistgespielten und in den Schulen eines der meistgelesenen Dramen der deutschen Literatur. Es gilt in mehrfacher Hinsicht als Meilenstein der deutschen Theatergeschichte: Als leidenschaftliche Anklage gegen die Schlechtigkeit der Welt, als revolutionäres Stück, das mit allen Traditionen der deutschen Bühnen bricht und so radikal und schonungslos gesellschaftliche Missstände aufdeckt, dass es bis heute nichts von seiner Aktualität und Brisanz verloren hat.

Der Held im Drama ist der Gegenentwurf zu den Idealfiguren von Friedrich Schiller, die Büchner abschätzig als "Marionetten" bezeichnete. Der einfache Soldat Woyzeck ist eine geschundene, gedemütigte, getretene Kreatur, die sich weder artikulieren noch gegen die Zumutungen der Mitwelt verteidigen kann. So ist er überzeugt, dass er, selbst wenn er in den Himmel käme, noch "donnern helfen" müsse.

Konsequent inszenierte Jörg Schulze-Neuhoff in seinem Solo-Abend "Woyzeck" als einen Getriebenen und Getretenen, der als "Mehrfachjobber" sein Leben durchhetzt und den sein Umfeld als Laufburschen, Handlanger und Versuchskaninchen nutzt. Die gutsituierten Mitglieder der Gesellschaft machen Witze über ihn, gegen die er sich nicht wehren kann, sie betrügen und demütigen ihn, wo immer es geht, und treiben ihn schließlich in den Wahnsinn, der ihn zum Mörder an der Geliebten werden lässt.

Die Inszenierung von Jörg Schulze-Neuhoff und Stefan Meißner setzt überraschend mit dem Ende des Dramas, also mit dem Mord an Marie, ein. So kann "Woyzeck" in ungeheurer Dichte als Mensch gezeigt werden, der zugleich an den Demütigungen der Mitwelt wie an der Bluttat gegen seine Geliebte leidet und dem das Leben buchstäblich zur Hölle wird. Für diese Hölle bot der abgedunkelte Gewölbekeller in Traben-Trarbach das atmosphärisch passende Ambiente, das der sowieso ausdrucksstarken Inszenierung eine geradezu dämonische Wirkung verlieh.

Die Schüler zeigten sich am Ende tief beeindruckt von der schauspielerischen Leistung und den kreativen Einfällen der Regie. Sie nutzten die Gelegenheit und stellten viele Fragen zur Inszenierung. Dabei assoziierten sie so eifrig zu einzelnen Regieeinfällen, dass der Regisseur mit einem Schmunzeln zugeben musste: "Darüber haben wir noch gar nicht nachgedacht."

Publikum, Darsteller und Organisatoren waren sich nach dem Gespräch einig: Im Blauen Gewölbe muss es weitere Theaterveranstaltungen geben!

NEUE WESTFÄLISCHE, 21.11.17
WOYZECK IM WOHNZIMMER
Kulturdeele Dreyen: Stefan Meißner und Jörg Schulze-Neuhoff präsentieren Georg Büchners Stück.
Die Gedankenwelt der Hauptfigut ist Hauptbestandteil des Stücks.
Autorin: Carina Cremer

Neue Westfälische DreyenSpielt den Woyzeck: Jörg Schulze-Neuhoff zeigt mit vollem Körpereinsatz die Welt des Woyzeck. | Foto: Carina Cremer

Enger. Die Kulturdeele ist voll besetzt und auf der mit Plastikfolien ausgelegten und für das Stück hergerichtenen Bühne stehen nur wenige Requisiten. Voller Vorfreude kündigen Holger Grabbe und Wera Kiesewalter die beiden Theaterkünstler Jörg Schulze-Neuhoff und Stefan Meißner an. "Wir haben ein volles Haus heute und fangen auch gleich an", sagt Kiesewalter.

Zum dritten Mal begrüßen Grabbe und Kiesewalter die beiden als Gäste; erstmals mit ihrem Stück Woyzeck. Dafür haben sie ihr Wohnzimmer in eine Bühne verwandelt. Georg Büchners Drama "Woyzeck" ist ein Werk, das den menschlichen Abgrund behandelt. Es werden Emotionen, wie Liebe, Hass und Eifersucht thematisiert. Es ist nicht immer leicht, die gezeigten Ausbrüche zu verdauen.

Gebannt, verstört, fasziniert

Von den Zuschauern war wärhend des Stücks kaum etwas zu hören. Gebannt, verstört oder fasziniert verfolgen sie die schauspielerische Darbietung von Schulze-Neuhoff.

Schulze-Neuhoff gibt seit August dieses Jahres den Woyzeck und verkörpert hierbei eine extreme und exzentrische Figur. Unterstützt wird er dabei von seinem Kollegen und Regisseur Meißner.

Bereits seit 2010 arbeiten die beiden zusammen. Drei Stücke haben sie seitdem inszeniert und auf vielen Bühnen gespielt.

Im ersten Akt tötet Woyzeck seine Frau Marie. Er muss sich um sein Kind kümmern und für die Familie Geld verdienen. Dafür nimmt er an einer Studie teil, bei der er sich nur noch von Erbsen ernährt, woraufhin er häufiger Wahnvorstellungen bekommt.

Die Gedankenwelt des Woyzeck ist Hauptbestandteil des Stücks. Schulze-Neuhoff und Meißner machen das durch stetige Lichtwechsel deutlich. Bei ihnen steht Rot für Wahn.

Seit 2005 spielt Schulze-Neuhoff Theater. Als Student hat er seine Leidenschaft für die Schauspielerei entdeckt.

Dabei muss es aber nicht immer eine grpße Bühne sein: "Es ist ganz unterschiedlich, mal sind die Bühnen groß, mal klein", sagt Jörg Schulze-Neuhoff.

Neben Franz Kafkas "Der Bau" und Goethes "Götz von Berlichingen" ist "Woyzeck" das dritte Stück von Schulze-Neuhoff und Meißner.

"Aber es kam immer wieder"

"Es ist eigentlich noch relativ jung", sagt Meißner. Die Idee, das Stück aufzuführen hatten die beiden allerdings schon länger. Doch wollten sie den "Woyzeck" zuerst nicht machen, da es schon so oft gespielt wurde. "Aber es kam immer wieder", sagt Meißner.

Am Ende der Vorstellung gab es einen langen Applaus. Für Schulze-Neuhoff und Meißner sei die Atmosphäre auf der Kulturdeele immer eine besondere.

Aus diesem Grund würden sie auch mit ihren zukünftigen Solostücken wieder gerne bei Wera Kiesewalter und Holger Grabbe zu Gast sein, sagt Schulze-Neuhoff.

WESTFALEN-BLATT, 20.11.17
VERSTÖRENDES THEATERSPIEL
Dreyener Kultudeele: Jörg Schulze-Neuhoff schlüpft in die Rolle des schizophrenen Woyzeck.
Autorin: Daniela Dembert

Westfalen Blatt DreyenEinmann-Theater: Jörg Schulze-Neuhoff mimt den Soldaten Woyzeck, der nach dem Mord an seiner Geliebten Marie allein mit seinem unehelichen Kind ausharrt. | Foto: Daniela Dembert

Enger. Er ist Täter und Opfer zugleich: Georg Büchners Dramenfigur Woyzeck ist die tragische Gestalt, die, öffentlich getriezt und gedemütigt, selbst zum Mörder wird. Das Duo Jörg Schulze-Neuhoff und Stefan Meißner hat eines der meistaufgeführten Bühnenstücke neu interpretiert. Jetzt waren Schauspieler und Regisseur mit ihrem Einmannstück zu Gast auf der Dreyener Kulturdeele von Wera Kiesewalter und Holger Grabbe.

Spärtlich sind die Requisiten, mit denen Schulze-Neuhoff agiert, modern und der Szenerie entrückt ist die Kulisse aus Plastikplanen, zwei Eimern und Stacheldraht, mit dem sich die Hauptfigur geißelt. Im Fokus steht der Akteur, nur mit einer alten Windel und Feldstiefeln bekleidet. Schulze-Neuhoff mimt den Schizophrenen, den Leidenden mit unheimlich wirkender Intensität.

In der Gedankenwelt des Woyzeck spuken die anderen Protagonisten des Stücks umher. Marie, ihr heimlicher Geliebter, der Tambourmajor, der Doktor, dem Woyzeck für eine Versuchsreihe untergeben ist und sein Hauptmann; sie alle huschen dem zum Mörder seiner Geliebten gewordenen Soldaten episodisch durch das Hirn. Dazwischen ist er geplagt von Stimmen, die ihm zum Mord Maries geraten haben. Ketchup verschmiert, sich in Mehl reinwaschend, steht er inmitten des Erbsenbreis, den zu essen ihm der Doktor aufgetragen hat, und liefert eine wahrhaft verstörende Erscheinung.

Regisseur Stefan Meißner und sein Darsteller haben den Woyzeck der Szenerie enthoben, haben ihn extrahiert und einen neuen Blickwinkel auf die Geschehnisse des Dramas eröffnet. "Das Stück an sich hat uns schon seit Längerem gereizt. Es war aber klar, dass es als eines der meist inszenierten Werke einen ganz anderen Zugang liefern muss, wenn wir es auf die Bühne bringen wollen", erklärt Meißner die Vorüberlegungen.

Das Publikum sah sich einem wimmerden, vor Angst schreienden Woyzeck, einem mit Süffisanz erniedrigenden Hauptmann, einer träumenden Marie und einem stattlichen Tambourmajor gegenüber. Schnelle Wechsel der Charaktere fordern den Zuschauer, lediglich die Wahnvorstellungen des Woyzeck sind durch Licht kenntlich gemacht. Minimalistisch ausgestattet geht es einzig um die Intensität des Spiels, um das Hin- und Herreißen der Zuschauer. "Das war wirklich ein sehr intensives Erlebnis", lobt Klara Hanke-Lenz die Inszenierung.

Büchners "Woyzeck" ist das dritte Bühnenstück, das das Duo gemeinsam als Einmanntheater umgesetzt hat. Vorangegangen sind Klassiker von nicht minder schwerem Kaliber: Mit Kafkas "Der Bau" und Goethes "Götz von Berlichingen" waren die beiden in vergangenen Jahren auch schon auf der Dreyener Deelenbühne zu Gast.

RUHR NACHRICHTEN, 11.09.17
DIE HÖLLE IST DIE GESELLSCHAFT
Woyzeck im Depot.

Autor: Martin Speer

Was die Aufführung des Woyzeck am Samstag besonders erschreckend macht, ist nicht das Motiv um den gequälten Eifersuchtsmörder selbst: Das allein auf den verstörenden Helden konzentrierte Solospiel des Bielefelder Schauspielers Jörg Schulze-Neuhoff lässt im Theater im Depot jede Distanz zur gemarterten Seele unmöglich werden.

Der Schauspieler und sein Regisseur Stefan Meißner haben zur Steigerung die traditionell chronologische Szenenfolge umgedreht: Der Mord an der untreuen Geliebten ist bereits geschehen, der Gemarterte und Marternde steht nahezu nackt, Stacheldraht um den Oberkörper gewickelt, auf offenem Feld, weit vom Tatort entfernt.

Quälend ist sein Schluchzen, sein allmähliches Begreifen: Er ist ein Mörder. Und er erlebt die psychische Hölle, verstärkt durch Bibelzitate, welche die verquere Religiosität des 19. Jahrhunderts widerspiegeln: Nicht Gnade oder Katharsis sind es, die den Mörder erwarten, nur endlose Höllenqualen.

Wo jedoch normalerweise ein breit angelegtes Personal ein wenig Objektivität lässt, macht der stete Blick auf die gemarterte Seele das Publikum zum Empfänger eines ganzen gesellschaftlichen Psychogramms. Die Hölle ist demnach die Gesellschaft.

Die Themen der Ausweglosigkeit bis zur Apathie endenden Flucht erscheinen, perfekt vorgetragen, als das Bild einer deformierten Religion und Weltsicht, die den Armen als ewig von Gott Gestraften ansieht.

KOMPOTT, 28.08.17
WOYZECK IM FALKENDOM
Autor: Maximilian Blasius

Kompott
Foto: Maximilian Blasius

„Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.“ Aus der Dunkelheit tritt eine Figur im schwarzen Regencape. Das kalte weiße Licht von oben enthüllt eine karge Bühne. Eine Ketchupflasche, Eimer, eine Blechdose und eine Puppe. Mehr hat die Welt für WOYZECK nicht übrig. Es mag zynisch klingen, aber das Problem bei WOYZECK ist, dass er existiert. Nicht nur das gemeinsame Kind mit Marie hat keine gesellschaftliche Bedeutung, keinen Segen der Kirche und keinen Sinn. Schon sein Vater ist überflüssig, deshalb legt dieser sich selbst die Ketten an, die ihn an diese Welt und die Dinge in ihr binden, um sich nicht zu verlieren.

Die Aussichtslosigkeit der Dinge und das Leben in Ketten bringen ihn in seine persönliche Hölle. Daran ist keiner Schuld, am wenigsten WOYZECK. Jedoch muss er sich die Sünden vom Leib waschen. Wenn aber niemand an WOYZECKS Existenz Schuld ist, dann gibt es da auch keine Sünde und vor allem keine Sühne. Der christliche Ritus ist eine Leerlaufhandlung. Die Kirchenglocken erklingen, WOYZECK reckt sich gen Himmel. Doch bleiben seine Gebete unbeantwortet. Gott hat sich abgewendet oder war niemals da. Die Weissagung der Himmel verhallt im Nichts. WOYZECK empfängt keinen Segen, doch Sünden müssen abgewaschen werden. Aber wer ist hier Sünder? Was bedeutet es, ein Sünder in einer Realität zu sein, wie WOYZECK sie wahrnimmt? Was bedeutet es in einer Welt ohne Werte und Zukunft, zu einem Täter zu werden?

Stefan Meißner und Jörg Schulze-Neuhoff führen das Publikum sicher durch die Charaktermasken, die WOYZECKs Leben zu dieser Hölle machen. Zum einen der Doktor, ein größenwahnsinniger Mediziner, der statt Menschen zu heilen, lieber Versuche mit ihnen macht. Für ihn ist WOYZECK ein Exemplar, ein medizinisch interessantes Objekt, das unbegrenzt Erbsen fressen und seinen Harn nur unter Aufsicht lassen darf. Woyzecks Hauptmann, der täglich von ihm rasiert wird, nutzt seinen militärischen Rang, um gegenüber WOYZECK groß und tief zu reden, produziert jedoch nur heiße, stinkende Luft, während er sich über WOYZECK lustig macht.

Zum anderen ist da Marie, WOYZECKs Partnerin, mit der er unverheiratet zusammen lebt. Sie hat sich mehr vom Leben versprochen und betrügt WOYZECK mit dem Tambourmajor, einem aufgeblasenen Kretin, der ihr mit Schmuck und Ruhm den Hof macht. Der Ausgang dieser Geschichte ist von vornherein festgelegt. WOYZECKS Mord an Marie ist unausweichlich. Jörg Schulze-Neuhoff wechselt routiniert zwischen den Rollen, formt präzise ihre Stimmen, Körperlichkeiten und Gefühle. Je nachdem, welche Rolle er gerade bekleidet, ändern sich auch die Bedeutungen der Gegenstände auf der Bühne. Mal sind jene Requisite, mal repräsentieren sie Personen und mitunter bilden sie den ganzen psychischen Horizont WOYZECKs ab, dem er nicht entkommen kann.

Alle Rollen lassen hinter ihrer Person einen gähnenden Abgrund erahnen. Derselben, der auch WOYZECK plagt. Sie alle können dem Albtraum ihrer Realität nicht entgehen und kompensieren alle auf ihre eigene Art ihre Durchschnittlichkeit und Abhängigkeit von den Umständen. Jörg Schulze-Neuhoff und Stefan Meißner entwickeln diese allgemeine Verlorenheit zu einer Groteske ähnlich Hieronymus Bosch, um den Umfang des ausartenden Pessimismus Georg Büchners zu umreißen. Der Hauptmann: „ Ich bin nur in Krieg gegangen, um mich in meiner Liebe zum Leben zu befestigen.“

MINDENER TAGEBLATT, 21.08.17
KRASS UND WIRKUNGSVOLL
70 Minuten Wahnsinn im Fort A: Jörg Schulze-Neuhoff zieht im Ein-Personen-Stück „Woyzeck“ die Zuschauer in seinen Bann.
Autorin: Kerstin Rickert

Westfalen BlattDem Wahnsinn nahe: Jörg Schulze-Neuhoff spielte Franz Woyzeck sehr eindrucksvoll. | Foto: Kerstin Rickert

Minden. „Was hab ich an meiner Hand? Hab ich dich gebleicht? Bin ich ein Mörder?“ Woyzeck steht völlig neben sich, kann nicht glauben, was er sieht. In geistiger Umnachtung hat er sie umgebracht: Marie, seine Geliebte und den einzigen Menschen, der seinem Leben Sinn gegeben hat. Später wird er mit ruhiger Stimme sagen: „Ich bin der Mörder.“ Zwischen Anfangs- und Schlussszene des Ein-Personen-Stücks „Woyzeck“ liegen rund 70 Minuten Wahnsinn. Der Bielefelder Schauspieler Jörg Schulze-Neuhoff spielte den von Psychosen getriebenen Woyzeck im Fort A mit einer Intensität, die unter die Haut ging und dem Publikum den Atem stocken ließ.

Dass die Aufführung nicht auf der Tucholsky-Freilichtbühne, sondern im Innern des preußischen Festungsbaus stattfand, war nicht dem Wetter geschuldet, sondern geplant. Die kleine Bühne unter dem Gewölbe im Untergeschoss des Reduits erwies sich dann auch als perfekter Ort für die von Schulze-Neuhoff stark gespielte „Woyzeck“-Fassung. Denn die Bühne wirkte wie ein Käfig, aus dem es kein Entrinnen gibt. Wie bereits bei Goethes Götz von Berlichingen, den Schulze-Neuhoff vor zwei Jahren im Fort A auf die Bühne brachte, zeichnete sich auch diesmal wieder Stefan Meißner als Regisseur verantwortlich.

Im Mittelpunkt seiner Inszenierung steht das durch äußere Umstände und Einflüsse völlig verwirrte Seelenleben des einfachen Soldaten Franz Woyzeck, der in seiner Ausweglosigkeit zum Mörder wird. Diese Szene steht hier nicht am Ende, sondern am Anfang einer höchst dramatischen Solo-Inszenierung. Harte Kost, aber grandios gespielt: Angefangen mit der Mordszene, in der reichlich Blutersatz aus einer Ketchup-Flasche fließt, Schulze-Neuhoff seinen Woyzeck im Rauschzustand verwirrten Geistes mit seiner toten Marie kopulieren lässt und herzergreifende Schreie zum Himmel schickt - der Zuschauer wird unmittelbar mit der Psyche eines hilflosen, vom Wahnsinn getriebenen Mannes konfrontiert. Woyzeck ist nicht mehr Herr seiner Sinne und seiner Taten, verkommen zu einer armseligen Kreatur. Schon die Anfangsszene trifft mitten ins Mark. Nach und nach wird beleuchtet, wer und was Woyzeck in diesen Zustand getrieben hat.

Erhellt sich die Bühne, dann wechselt Schulze-Neuhoff von der Rolle des Woyzeck zu den Personen in dessen Leben. Zum Hauptmann, der Woyzeck mit Worten wie „Er ist dumm, er ist kein tugendhafter Mensch“ erniedrigt. Zum Tambourmajor, der Marie schöne Augen macht und mit glänzenden „Ohringlein“ ihre Gunst gewinnt. Zum Arzt, der Woyzeck mit einer Erbsendiät körperlich und seelisch krank macht.

Immer wieder springt Schulze-Neuhoff zwischen diesen erhellenden Szenen und dem dunkelsten Moment in Woyzecks Leben hin und her und geht dabei an seine Grenzen. Besonders ergreifend ist er dann, wenn er mit verdrehten Augen ins Leere blickt und wie ein Wahnsinniger immer wieder dieselben Worte vor sich hinsäuselt: „Ich muss mich waschen.“ Als könnte er sich von der Sünde befreien, die er als Opfer seiner Umwelt begangen hat. Auf der Bühne ist es in diesen Momenten fast dunkel, im Publikum mucksmäuschenstill.

Die sozialkritische Tragödie „Woyzeck“ gehört zu den meist gespielten Dramen der deutschen Literatur. Bevor Georg Büchner sein, vermutlich im Spätsommer 1836 begonnenes Werk, beenden konnte, starb er im Februar 1837 im Alter von nur 23 Jahren. Sein Manuskript bietet daher immer wieder Gelegenheit zur Interpretation. Die im Fort A gezeigte Fassung mit einem brillanten Jörg Schulze-Neuhoff darf auch deshalb als gelungen gelten, weil sie die Psyche des Opfers und des Täters Woyzeck in den Fokus rückt. Krass und wirkungsvoll.

WESTFALEN-BLATT, 19./20.08.17
BLICK IN MENSCHLICHE ABGRÜNDE
Zwischen Ekel und Bewunderung: Meißners „Woyzeck“-Interpretation.
Autorin: Christina Falke

Westfalen BlattSchauspieler Jörg Schulze-Neuhoff ist für seine großartige Darstellung des „Woyzeck" vom Publikum bei der Premiere im Falkendom gefeiert worden. | Foto: Christina Falke

Bielefeld. "Woyzeck" unter der Regie von Stefan Meißner als ein Ein-Mann-Stück, das den Besucher mit vielen Fragen und etwas verstört nach der 75-minütigen Aufführung zurück lässt. Zur Premiere kamen am Donnerstagabend 60 Besucher in den renovierten Falkendom.

Derzeitkönnen dort nur Theateraufführungen und Ähnliches stattfinden, da eine Lärmpegelmessung bisher noch nicht durchgeführt werden konnte (das WESTFALEN-BLATT berichtete). Aber auch als kleines Theater machr der Veranstaltungsort an der Meller Straße durchaus eine gute Figur.

Vor ausverkauftem Haus fand in Zusammenarbeit mit dem "Theater im Depot" nun die Erstaufführung von Stefan Meißners Interpretation des Dramas "Woyzeck" von Georg Büchner statt.

Die Bühne war mit Folie ausgelegt - auf ihr eine gefüllte Ketchup-Flasche, zwei Eimer, eine Puppe sowie eine verschlossene Blechdose. Alles miteinander durch Bänder, die wie Stacheldraht wirkten, verbunden. Der Saal war rot  ausgeleuchtet, bevor er im Dunkel versank.

Als Jörg Schulze-Neuhoff die Bühne betritt und Position einnimmt, erhält er lediglich durch Gegenlicht eine Silhouette. Es folgt die Entleerung der Ketchup-Flasche durch ihn und schließlich ein Mord - offenbar aus Affekt - an Marie, seiner ehemaligen Geliebten, die ein Verhältnis mit dem Tambourmajor hatte.

Bis hier hin konnte man der Interpretation von "Woyzeck" auch gut folgen und den Inhalt verstehen - auch, wenn der penetrante Geruch der roten Pommes-Soße das Geschehen auf der Bühne beinah in den Hintergrund rückte. Dass sich Schulze-Neuhoff in der Rolle des Woyzeck hier und da auch mal übergab, verursachte bei dem einen und anderen Besucher sicherlich selbst Überlkeit.

Als die Konservenbüchse geöffnet war und Wehrmann Woyzeck  den Inhalt immer wieder in seinen Mund stopfte, um ihn dann wieder auszuspucken und über der Bühne zu verteilen, zwang dies den einen Zuschauer, den eigenen Würgereflex zu unterdrücken, den anderen riss es zu einem verlegenen Lachen hin.

Was genau welche Figut auszusagen hat, das erschloss sich dem Besucher bei dieser Aufführung nur sehr schwer und eigentlich auch nur dann, wenn er sich mit dem Dramatiker und Dichter Georg Büchner und vor allem dessen Stück "Woyzeck" im Vorfeld näher beschäftigt hatte.

Büchner ließ mit "Woyzeck" nach seinem frühen Tod ein unfertiges Stück zurück. Im Jahre 1836 begann er an dem Drama zu schreiben - vermutet wird, dass der Inhalt des Stücks auf mehrere Morde, die Gesellenleute an ihren Geliebten im 19. Jahrhundert begangen haben sollen, zurück zu führen ist.

Büchners Aufzeichnungen waren nach seinem Tod sehr unleserlich. Die Tinte konnte jedoch mit Hilfe damals modernster Methoden sichtbar gemacht werden. Und so machten sich mehrere Schriftsteller nach und nach an die Bearbeitung des Werks. Es entstanden immer wieder neue Interpretationen - die Figuren aber blieben gleich.

Der Gütersloher Stefan Meißner schrieb "Woyzeck" nach Büchners Aufzeichnungen in ein Solostück um, in dem alle möglichen Abgründe des Menschen geschildert werden - vor allem stellt sich immer wieder die Frage: "Wie stark sind die animalischen Triebe in unserer Gattung noch vertreten?" Das Mordmotiv steht dabei die ganze Zeit über im Mittelpunkt des Geschehens, ebenso wie die Unterdrückung durch höher gestellte Mitmenschen.

Ohne die großartige schauspielerische Leistung wäre Meißners "Woyzeck" beinahe unerträglich gewesen - gerade wegen der Darstellung aller menschlichen Abgründe. Kein Wunder, dass das Publikum Jörg Schulze-Neuhoff mit tosendem und lang anhaltendem Applaus belohnte.

NEUE WESTFÄLISCHE, 19./20.08.17
NICHTS ALS ERBSEN
Theaterpremiere: Stefan Meißner inszenierte im Falkendom „Woyzeck“ als starkes Solo für den Schauspieler Jörg Schulze-Neuhoff.
Autorin: Antje Doßmann

Neue Westfälische
Der Horror des Wahnsinns: Jörg Schulze-Neuhoff ging bei seiner starken Woyzeck-Darbietung ins Extreme. | Foto: Antje Doßmann

Bielefeld. Regisseur Stefan Meißner und Schauspieler Jörg Schulze-Neuhoff sind ein eingespieltes Team. Nach Kafkas "Der Bau" und Goethes "Götz" haben sie sich un an eine Solobearbeitung des "Woyzeck" von Georg Büchner gewagt. Soeben feierte die trashige, von Jörg Schulze-Neuhoff stark gespielte Tour de Force, bei der das Ketchup-Blut in Strömen floss, viel Mehl ins Gesicht gestäubt und massenweise Erbsen verschlungen wurden, im Falkendom Premiere.

Das auf 75 Spielminuten verdichtete Ein-Personen-Stück setzte dabei beim Publikum Grundkenntnisse des "Woyzeck" voraus. Ohne diese erschlossen sich viele Details der extrem zugespitzten Inszenierung nicht auf Anhieb. Besonders die über Lautsprecher eingelesenen Märchen- und Bibelzitate machten es schwer, sie als verstörende Einflüsterungen zu erkennen, die Woyzeck durch die Großmutter erfuhr.

Das von Büchner in vier schwer lesbaren Handschriften hinterlassene "Woyzeck"-Fragment benutzt diese Zitate als Stilmittel des Gegenentwurfs zu den klinisch-kalten Kommentaren des zynischen Arztes, dem Woyzeck aus Geldnot zu Versuchszwecken dient. Furchtbar sind die Haltungen beide, der zum Mörder werdende Woyzeck ist ein zutiefst bedauernswerter Mensch. Das macht die elementare Kraft dieses Dramas aus, das nicht von ungefähr zu den meistgespielten auf deutschen Bühnen zählt.

Bis heute geht das wüste, scharfe, Sozialkritik transportierende Drama unter die Haut und an die Nieren. Schulze-Neuhoff spielte den von seinem Vorgesetzten, einem "Tambourin-Major", geschundenen Soldaten mit großer Intensität. Galoppierte, kroch, stampfte und schlitterte über den zunehmend glitschiger werdenden Bühnenboden, verlor mehr und mehr den Halt.

Selbst die schwierigen Wechsel in andere Rollen gelangen ihm mit wenigen, aber überzeugenden Mitteln gut. So verkörperten seine Hände in jener Szene, die das Unheil in Ganz setzte, da Marie vom Major in Mephisto-Manier mit Schmuck verführt wird, stellvertretend die beiden Figuren.

Durch erbärmliche Verhältnisse in den Wahnsinn getrieben

Besonders beeindruckend war der Schauspieler jedoch immer dann, wenn er sich selbst nicht schonend und ergreifend in seiner Isolation Woyzeck war. Mit diesem, von nach einem Vierteljahr Erbsenfressen in den intermittierenden Wahnsinn getriebenen Opfer-Täter, den Büchner zur sozialen Kategorie der "Geringsten unter den Menschen" rechnete, drang damals ein neuer Menschentyp in die Welt des Dramas.

Zum ersten Mal wurde ein an den erbärmlichen Verhältnissen verrückt Gewordener zur zentralen Figur einer erschütternden Tragödie. In Szene gesetzt nicht als burleskes menschliches Monster, sondern als ein von seiner Mitwelt kaputt gemachtes Individuum. Zum ersten Mal wurde die Frage der Zurchnungsfähigkeit eines Täters auf der Bühne explizit verhandelt.

Wahnsinn als Antwort auf ein unverständliches Schicksal. Was für ein großes, schreckliches, zeitloses Thema. Das Gegenteil von erbaulichem Theaterstoff. Schulze-Neuhoff dabei zuzusehen, wie er am Anfang wahnsinng wütend zum Mörder an seiner unteren Geliebten und Mutter seines Sohnes wird, und am Ende wahnsinnig traurig seine Täterschaft bekennt, war bewegend und bestürzend.

"Beachten Sie die Wirkung", forderte Büchners Figur des Doktors, der berüchtigten NS-Ärzten Vorbild gewesen sein dürfte, nachdem Woyzeck durch das Erbsen-Experiment dünnes Haar, "ungleichen Puls", "das Zittern" und einen stieren Blick bekommen hatte. Genau das haben Stefan Meißner und Jörg Schulze-Neuhoff radikal im kritischen, im guten Sinne getan.